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Aretha Franklin als Dreißigjährige in Los Angeles.

Uraufführung nach 47 Jahren

Aretha Franklin: Amazing Grace

Aretha Franklin, am 25. März 1942 als Tochter des bekannten Baptistenpredigers Clarence LaVaugn Franklin in Memphis (Tennessee) geboren, war schon früh mit der religiösen Musik in Berührung gekommen: Sie sang mit ihren beiden Schwestern Carolyn und Erma im Chor der New Bethel Baptist Church ihres Vaters. Bekannte Künstler wie Mahalia Jackson, Sam Cooke und Clara Ward erschienen zu den Gottesdiensten und der später berühmte Reverend James Cleveland gab ihr Klavierunterricht.

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1972 steht die erst 30-jährige Aretha Franklin bereits im Zenit ihrer Karriere. Nach zwanzig Studioalben und elf Nummer-eins-Hits in den USA beschließt die „Queen of Soul“ zu ihren musikalischen Wurzeln zurückzukehren: In der schmucklosen New Temple Missionary Baptist Church in Watts, Los Angeles, gibt sie zusammen mit dem Southern California Community Chor unter der mitreißenden Leitung Alexander Hamiltons und dem inzwischen zur Gospellegende gewordenen Prediger James Cleveland ein zweitägiges Konzert, dass ihr Produzent Jerry Wexler von Atlantic Records für ein Plattenalbum mitschneiden lässt.

Das Live-Konzert „Amazing Grace“ wurde nicht nur zum bis heute meistverkauften Gospelalbum aller Zeiten, sondern im Auftrag des Hollywood-Studios Warner Brothers auch verfilmt. Eigentlich sollte der Dokumentarfilmer Jim Signorelli den Auftrag erhalten. Doch als Sydney Pollack, mit seinem Spielfilm „Nur Pferden gibt man den Gnadenschuss“ gerade als bester Regisseur für den Oscar nominiert, in einer Besprechung mit dem Warner-Geschäftsführer Ted Ashley von dem Projekt erfuhr, wollte er es unbedingt übernehmen. Der Film wurde am 13. und 14. Januar 1972 live in der Kirche von Gospellegende James Cleveland vor einem durchaus prominenten Publikum aufgezeichnet, darunter die divenhafte Clara Ward, „Rolling Stones“-Frontmann Mick Jagger samt Schlagzeuger Charlie Watts und Arethas Vater.

Doch Sydney Pollack war als Spielfilmregisseur gewohnt, dass Bild und Ton unabhängig voneinander aufgenommen und nachträglich synchronisiert werden. Nach den beiden erfolgreichen Aufnahmetagen verzweifelten die Cutter und Tonmeister, denn es gab keine Filmklappen oder andere Markierungen, um den Klang mit dem Bild zu synchronisieren. Pollack engagierte Lippenleser und Spezialisten, hatte aber auch damit kein Glück. Schließlich wurde das Projekt aufgegeben. Erst nach 40 Jahren baten Jerry Wexler und Sydney Pollack gemeinsam Warner um die Genehmigung, mithilfe neuer digitaler Technologien die Audiospuren den Filmaufnahmen anzupassen und aus dem Rohmaterial einen Film zu erschaffen. Nachdem Pollack 2008 in Los Angeles starb, vollendete Koproduzent Alan Elliott die nach dem ersten Schnitt noch dreieinhalbstündige Dokumentation und kürzte sie auf 89 Minuten.

Der Chorleiter Alexander Hamilton und Aretha Franklin.

Doch Aretha Franklin hat durch Gerichtsbeschlüsse 2011 und 2015 erste Aufführungsversuche unterbunden. Erst nach ihrem Tod im August 2018 war der Weg frei für die Uraufführung am 12. November 2018 beim Dokumentarfilmfestival „DOC NYC“ in New York. Nach der deutschen Erstaufführung am 15. Februar 2019 auf der Berlinale lädt „Amazing Grace“ nun 47 Jahre später zu einer Reise in die Vergangenheit ein. Der technisch naturgemäß nicht wie heutzutage brillante, in vielen Einstellungen, in denen etwa Pollack im Kordhosen-Look der 1970er Jahre durchs Bild läuft und den Kameraleuten Anweisungen gibt, geradezu nostalgische Film ist mehr als die Dokumentation eines bedeutenden Teils der amerikanischen Musikgeschichte, mehr als eine musikalisch-atmosphärisch mitreißende Hommage an den Gospel, der die amerikanische Musik in den 1960er Jahren stark beeinflusst hatte.

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„Amazing Grace“ ist auch ein christlicher Gottesdienst, mit einer Inbrunst, einer Emphase, die für das mehrheitlich religionsferne europäische Publikum bisweilen befremdlich erscheinen mag. Aber vom ersten Lied „Wholy Holy“ an ist keine Kamera Aretha Franklin näher gerückt, ihrem Leib und ihrer Seele, nicht zuletzt auch der trotz allen Weltruhms bescheidenen Tochter ihres Vaters, der es sich am zweiten Abend nicht nehmen lässt, ihr persönlich den Schweiß vom Gesicht zu tupfen. Eine anrührende Szene von vielen, die auch keinen Atheisten kalt lässt. Und wer zusieht, wie es einen Mick Jagger packt, wird sich seiner Emotionen im Kinosessel nicht schämen. „Grace“, so erinnerte Bishop William Barber II. in seiner Predigt das New Yorker Uraufführungspublikum, bedeutet Anmut im Angesicht von Schrecken und Gnade in einer unbarmherzigen Welt. „Aretha Franklin: Amazing Grance“, so der deutsche Titel, wird im Casablanca Bochum, in der Schauburg Dortmund sowie im Essener Filmstudio Glückauf gezeigt.

| Autor: Pitt Herrmann