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Bele Kumberger als Tatjana.

Kammerfassung der Tschaikowski-Oper im Kleinen Haus

Eugen Onegin in Gelsenkirchen

„Ich brauche keine Zaren, Zarewas, Revolutionen, Schlachten, Märsche, kurz alles das, was man als Grand Opera bezeichnet“, schreibt Peter Tschaikowski am 14. Januar 1878 an seinen Schüler Sergej Tanejew. „Was ich suchte, war ein intimes, aber erschütterndes Drama, das auf Konflikte beruht, die ich selbst erlebt oder gesehen habe, die mich zutiefst berühren können.“

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In Eugen Onegin, den 1879 von Studenten des Konservatoriums am Moskauer Maly-Theater uraufgeführten Lyrischen Szenen, so der Untertitel Tschaikowskis, lebt die fröhliche Olga (Trägerin des Kölner Roderburg-Förderpreises: die Mezzosopranistin Lina Hoffmann) bei ihrer Mutter, der Generalswitwe Larina (Noriko Ogawa-Yatake), auf dem Land. Sie ist mit dem jungen, schwärmerischen Dichter Lenski (neu im Ensemble: der südafrikanische Tenor Khanyiso Gwenxane mit wunderbar weichem Timbre) verlobt, der eines Tages mit Onegin (Piotr Prochera) einen befreundeten Nachbarn mitbringt. Dem weltgewandten und daher von der Provinz eher angeödeten Gutsherrn verfällt Olgas introvertierter Bücherwurm von Schwester Tatjana (herausragend: Bele Kumberger) sogleich mit Haut und Haaren.

Sie schreibt ihm noch am Abend einen Liebesbrief, doch der leichtlebige Onegin zeigt sich genervt und weist Tatjana zurück. Mehr noch: auf dem Fest zu ihrem Namenstag flirtet Onegin mit der naiven Olga. Ein Streit mit dem eifersüchtigen Lenski endet in einer Katastrophe: Onegin tötet im Duell seinen einstigen besten Freund und muss als Mörder die Provinz für unbestimmte Zeit verlassen.

Viele Jahre später begegnet er Tatjana erneut, die inzwischen mit dem Fürsten Gremin (voluminöse Stimme: der Bassist Michael Heine) verheiratet und umschwärmter Mittelpunkt der St. Petersburger Gesellschaft ist. Reuig dreht Onegin den Spieß um und fleht sie an, mit ihm ein neues Leben zu beginnen. Doch die kurzzeitig zu Tränen der Erinnerung gerührte Tatjana weist Onegin energisch ab – und das nicht nur als pflichtbewusste verheiratete Frau.

„Du kannst dir kaum vorstellen“, schreibt Peter Tschaikowski am 18. Mai 1877 an seinen Bruder Modest, „wie begeistert ich von diesem Stoff bin. Ich bin so glücklich, mich von diesen ganzen ägyptischen Prinzessinnen, diesen Pharaonen, diesen Giftmorden und diesem ganzen Schwulst zu befreien. Eugen Onegin ist von einer unendlichen Poesie. Dabei ist mir klar, dass es in dieser Oper wenige Bühneneffekte und wenig Handlung geben wird. Aber die Poesie des Ganzen, die Menschlichkeit, und die Einfachheit des Stoffs, zusammengefasst in einer genialen Dichtung, gleichen diese Mängel ohne Mühe aus.“

Es braucht keine ungebändigte Wiese als zentrales Bühnenbild von Rebecca Ringst, auf historischen, rund einhundert Jahre alten Webstühlen und zum Teil in traditioneller Handarbeit in einem sächsischen Familienbetrieb aus Sisal hergestellt für den 1. Akt der Onegin-Neuinszenierung des Hausherrn Barry Kosky 2016 an der Komischen Oper Berlin. Es braucht auch keinen US-Straßenkreuzer als Mittelpunkt einer ganz heutigen Partygesellschaft im 3. Akt wie der Ford Mercury Komet in Tina Laniks Dortmunder Produktion im Jahr darauf.

„Gewöhnung schenkt uns der Himmel als Ersatz für das Glück“: Die Gutsbesitzerin Larina und die – im gedruckten Programmheft glatt unterschlagene - Amme Filipjewna (Almuth Herbst) müssen auch nicht Früchte zu Marmelade einkochen, wenn sie sich über vergangene Liebschaften und vertane Chancen auslassen, immer im Blick die beiden naschenden Schwestern im heiratsfähigen Alter, Olga und Tatjana. In der nach Die Jungfrau von Orleans (1995) und Pique Dame (2014) seit Jahrzehnten erst dritten und daher längst überfälligen Tschaikowski-Produktion am Gelsenkirchener Musiktheater durch den musikalischen Leiter Thomas Rimes und die Regieassistentin Rahel Thiel genügt eine Reduktion des Bühnenbildners Dieter Richter auf das Wesentliche vollauf, um Stimmungen zu erzeugen und die Phantasie des Publikums anzuregen.

Ein Birkenwald-Panorama verdichtet sich atmosphärisch zum Garten des Larinschen Landsitzes, der Negativ-Abzug des gleichen Bildes im 2. Akt zur frühmorgendlichen Winterlandschaft, in welcher der ahnungsvolle Lenski sein Leben aushaucht. Den hier völlig nahtlosen Übergang zum Greminschen Ballsaal, die Pause des 160-minütigen Abends ist klug gelegt mitten in den 2. Akt zwischen Tatjanas Namenstagsfeier und dem Duell, markieren lediglich drei vom Schnürboden heruntergelassene Kronleuchter.

Rahel Thiel, Leipzigerin des Jahrgangs 1990, die 2016 mit Benjamin Brittens The Turn of the Screw eindrucksvoll am MiR debütierte und im vergangenen Jahr Eduard Künnekes Operette Der Vetter aus Dingsda als Kammerspiel im Altenheim verhunzte, konzentriert sich ganz auf die Hauptfigur der Oper, Tatjana. Tschaikowski hat die Tragödie um erste große Liebe, Freundschaft, Enttäuschung, Rache und Schuld mit seinem Freund Konstantin Schilowski nach dem ab 1825 publizierten Versroman Jewgeni Onegin Alexander Puschkins für das Musiktheater bearbeitet - mit heiter-volkstümlichen Melodien im ersten und dramatisch-aufwühlenden Gefühlsausbrüchen im zweiten und dritten Akt.

Rahel Thiel verlegt diese gerade auch musikalisch herzerwärmend-melancholische Oper in das Innenleben der beiden völlig konträren Protagonisten Tatjana und Onegin, deren einziges Duett bereits ganz vom Abschied geprägt ist. Sie macht sich Tschaikowskis Identifikation mit Tatjana zu eigen: Selbst der einmal mehr großartige Opernchor offenbart am Ende des 2. Aktes stumme Missbilligung für Onegin („Aber ich bin nicht fürs Eheglück gemacht“) und gestische Empathie für die Zurückgewiesene. Diesem Realismus der Figuren und ihrer Gefühle entspricht die 2013 für das Deutsche Nationaltheater Weimar arrangierte Kammermusikfassung von Andre Kassel für ein Streichquartett, Akkordeon, Klavier, Celesta und Drumset.

Das Parkett im Kleinen Haus des MiR ist durch einen Laufsteg, der Bühne und Rang miteinander verbindet, zweigeteilt. Links beansprucht die Neue Philharmonie Westfalen die ersten Reihen, die Instrumentierung geht unter anderem mit Holz- und Blechbläsern über die Vorgaben Kassels hinaus. Musiker, Chor und Gesangssolisten sorgen für einen unmittelbaren, bisweilen überwältigenden Raumklang in einem Raum, der akustisch für Opernaufführungen höchst ungeeignet erscheint. Weshalb Andre Kassels Kammerfassung schon am rechten Ort aufgeführt wird.

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Sie kann Tschaikowskis Original nicht im Ansatz ersetzen, was auch die enorme Bühnenpräsenz aller Beteiligten mitten im Publikum nicht ausgleicht. Allen voran die herausragende Sopranistin Bele Kumberger, die demnächst als Woglinde im Rheingold des Intendanten Michael Schulz am MiR sowie als Blumenmädchen im Bayreuther Parsifal genossen werden kann.

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  • Samstag, 9. März 2019, um 19:30 Uhr
  • Samstag, 16. März 2019, um 19:30 Uhr
  • Donnerstag, 21. März 2019, um 11 Uhr
  • Freitag, 29. März 2019, um 19:30 Uhr
| Autor: Pitt Herrmann