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Hans-Jürgen Jaworski

Eine Kolumne von Hans-Jürgen Jaworski

Der entscheidende RR-Wert

Mittlerweile sind wir alle schon kleine Virologen oder Epidemiologen. Schließlich sind wir bis heute (März 2021) ein Jahr lang in die Lehre gegangen. So wissen wir, wer oder was sich hinter RKI, STIKO, WHO und EMA verbirgt. Wir können zwischen PCR-Test, Antigentest, Antikörpertest und schließlich Corona-Selbsttest unterscheiden. Inzidenz, Reproduktionszahl, Mutation, Lockdown und Shutdown oder Vulnerabilität sind für uns keine Fremdworte mehr. Und weil wir das alles wissen, wissen wir meistens alles besser, zumindest vieles besser und halten damit auch nicht hinterm Berg.

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Das ist dann so ähnlich wie bei der Fußball-WM. Wenn unsere Mannschaft spielt, gibt es Millionen von Experten und Hunderttausende Bundestrainer, die alles besser wissen als Jogi Löw - mit jedoch einem entscheidenden Unterschied: Löw sitzt im Stadion auf der Trainerbank, die anderen Experten auf dem Sofa vor dem Fernseher mit Chips und ´ne Pulle Bier. Der auf der Trainerbank kann anschließend womöglich Prügel beziehen, die auf dem Sofa werden höchstens aus Wut und Enttäuschung noch eine Pulle mehr trinken und sich noch eine Tüte Chips einverleiben.

Bezüglich Corona muss man allerdings uns Neu-Virologen zugute halten, dass durch die Art und Weise, in der vieles in den letzten Monaten von den zuständigen Stellen und wichtig (-tuerisch)en verantwortlichen Personen organisiert und kommuniziert worden ist, einem das Besserwissen immer wieder geradezu aufgezwungen worden ist.

Nebenbei: Das Problem des sogenannten Besserwissens ist ja an sich nicht, dass man etwas besser weiß, sondern, dass es meistens nicht zum Bessertun führt, da es ja in der Tat einem etwas abverlangen würde. Häufig führt es deshalb nicht ins Bessertun, weil man einfach zu bequem, zu lustlos oder zu selbstsüchtig ist und nicht deshalb, weil man keine Möglichkeit dazu hätte.

Und genau hier liegt der Unterschied zwischen einer Fußball-WM und dieser Corona-Geschichte. Bei Corona sind wir sogar dann mittendrin im „Spielgeschehen“, wenn wir auf unserem Sofa vor dem Fernseher sitzen.Und das hat mit dem alles entscheidenden RR-Wert zu tun.

Der R-Wert mit den zwei Rs, also der RR-Wert

Eigentlich gibt es ihn gar nicht, jedenfalls nicht in der Epidemiologie, obwohl er gerade jetzt von großer Bedeutung ist und von dem, was er anzeigt, sehr viel für unsere Gesellschaft und überhaupt für unser Leben abhängt. Man kann ihn schlecht messen, aber seine Auswirkungen erfahren wir jeden Tag aufs Neue. Zum bekannten R-Wert, der anzeigt, wie viele Menschen ein Infizierter ansteckt, verhält er sich umgekehrt proportional: Je höher der RR-Wert, umso so niedriger der R-Wert, um so weniger breitet sich das Virus aus. Und genau an dieser Stelle sind wir 'Neu-Mini-Hobby-Virologen' gefordert. Hier kann uneingeschränkt aus Besserwissen ein Bessertun werden. Wir könnten dann getrost alle anderen schönen Fachausdrücke vergessen, oder besser: Sie den wirklichen Profis überlassen. Es würde immer und überall reichen, wenn wir nur RR-Wert-Experten wären.

Also, was bedeutet endlich RR-Wert?

Das erste R steht für Respekt, das zweite für Rücksicht, genau in dieser Reihenfolge, weil Respekt die Voraussetzung für Rücksicht ist. Wo man in einer Gesellschaft die Würde des anderen respektiert, behandelt man ihn auch rücksichtsvoll. Aber genau das ist das Problem. Der Mangel an Respekt für den anderen in unserer Gesellschaft, zeigt sich besonders in der Krise in der Zunahme von Rücksichtslosigkeit. Gedanken an das Allgemeinwohl rücken in weite Ferne.

'Ein Volk von Egoisten'

So läßt die Autorin Donna Leon in dem schon 1993 erschienen Krimi „Endstation Venedig“ Kommissar Brunettis Schwiegervater völlig desillusioniert räsonieren: „Es ficht mich an, dass diese Dinge geschehen (eine illegale Giftmüllkippe), dass wir uns selbst und unserer Nachkommen vergiften, dass wir wissentlich unsere Zukunft zerstören….Wir sind ein Volk von Egoisten. Es ist unsere Zierde, aber es wird unser Verderben sein, denn keiner von uns lässt sich je dazu bringen, sich mit etwas so Abstrakten wie dem ‚Allgemeinwohl zu befassen.“ (Diogenes-Taschenbuch 22936, S.325)

Dabei wissen wir nur zu gut, dass unser persönliches Wohlergehen nicht unabhängig ist von diesem sogenannten Allgemeinwohl.

Für dieses Bemühen um das Allgemeinwohl gibt es eine wunderbare Umschreibung. Viele werden sie schon einmal gehört haben (sie gibt es ja schon ungefähr 2500 Jahre). Ich möchte nur daran erinnern, weil es dabei letztlich auch schon um den RR-Wert geht und weil es eine fast lyrische Formulierung ist.

So schreibt der Prophet Jeremia seinen von Nebukadnezar nach Babylon weggeführten Mitbürgern: „Suchet der Stadt Bestes….“ (Jer. 29,7) Und diese „Stadt“, das waren ja nicht die babylonischen Prachtbauten, sondern die Menschen, die in solchen, aber auch meistens weniger prächtigen Bauten wohnten. Im Grunde sagt er ihnen: „Auch wenn eure Situation nicht einfach ist, begegnet den Menschen, so fremd und anders sie für euch auch sein mögen, mit Respekt und Rücksicht.“

Ich kann mir vorstellen, dass etliche im babylonischen Exil sich über diesen Ratschlag mächtig aufregten. Aber hinter ihm steckt eine ganz nüchterne Einschätzung der Situation: Zum einen wird sich die Lage nicht so schnell ändern (und in der Tat dauerte das Exil fast 70 Jahre). Zum anderen wird es ihnen selbst in der Fremde besser ergehen, wenn sie der (neuen) 'Stadt Bestes' suchen. Deshalb heißt es in dem Schreiben des Propheten weiter: „…denn wenn's ihr wohl geht, geht es auch euch wohl.“

Man kann einwenden, dass das mit Jeremia und den nach Babylon Verschleppten eine fürchterlich alte Geschichte sei. Stimmt. Aber die Wahrheit darin ist zeitlos und gerade jetzt in besonderer Weise aktuell: Suchen wir das Beste für unsere Stadt, so wird genug Gutes für uns selbst abfallen. Respekt und Rücksicht anderen gegenüber lohnt sich immer auch für einen selbst. Und das gilt nicht nur in dieser Corona-Zeit, aber vielleicht jetzt gerade verstärkt.

Die Wichtigkeit des RR-Wertes

Es können immer wieder neue sinnvolle und oft auch weniger sinnvolle Regeln und Restriktionen erlassen werden, um Corona zu bekämpfen. Aber sie stoßen an ihre Grenzen , wenn Respekt und Rücksicht kaum eine Rolle spielen. Wir können weiterhin jeden Tag gespannt auf Zahlen und Statistiken schauen (das ist bei vielen schon zu einem Ritual geworden), aber wirklich interessant ist, wie es um meinen persönlichen RR-Wert steht, den niemand anderes als nur ich selbst bemessen kann, dessen Wert jedoch in der Begegnung mit anderen erfahrbar wird.

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Eben in Respekt und Rücksicht.

| Quelle: Hans-Jürgen Jaworski